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Die kaputte Welt von „Österreich“

Das Wappentier von Österreich ist bekanntermaßen der Adler. Bei jenem „Österreich“, für das täglich sinnlos Bäume sterben, dürfte es hingegen der Geier sein. Über unserem privaten Leben kreisend, nur auf einen günstigen Augenblick wartend, um es genussvoll, öffentlich auszuweiden.

Wo „Krone“ und „Heute“ aufhören, fängt „Österreich“ erst an. Wie sonst wäre eine Geschichte — inzwischen sogar Artikelserie — erklärbar, die in ihrer Schamlosigkeit, Menschenverachtung und Pietätlosigkeit neue Tiefpunkte auf der nach unten offenen Skala des Gossenjournalismus in Österreich setzt (gemeint sind Blatt und Land).

In Wien wurde eine Frau getötet, ihre Leiche zerteilt und in Müllcontainern versteckt. Der mutmaßliche Täter erklärte gegenüber der Polizei, das Messer sei während eines sexuellen Rollenspiels abgerutscht, der Tod ein Unfall, die Verschleierungstaten danach im Schock geschehen.

Das ist im wesentlichen die Nachricht. Vielleicht noch Stellungnahmen der Behörde und des Anwalts, später der Bericht über den Prozess und dessen Ausgang. Eventuell noch Erklärungsversuche zu Tat und Motiv durch befähigte Personen. Mehr geht uns nichts an. Mehr muss keiner wissen.

„Österreich“ hingegen…

Die kaputte Welt... (Österreich, 6.7.2010)

  • zeigt sechs unverpixelte Fotos der Getöteten. (Quelle: „Privat“ — und merkt den Widerspruch nicht.)
  • schreibt vom Titel bis ins Blattinnere stets von „Sex-Mord“ und „Mordopfer“ (womit sich nebenbei auch die Unschuldsvermutung erledigt hätte).
  • titelt pietätvoll: „Die kaputte Welt des Mordopfers“. (Wer läse das nicht gern über einen verlorenen Freund/Verwandten?)
  • spekuliert wild: „Irgendetwas muss in der Jugend der jungen Frau passiert sein: Ein Missbrauch, eine Verletzung […]”
  • diagnostiziert ein „Alkohol- und Borderline-Problem“ (breitet also ganz bewusst und schamlos Eskapaden aus, die laut „Österreichs“ eigener Einschätzung auf einer Erkrankung beruhen könnten).
  • verbreitet Gerüchte über die Mutter der Getöteten („sie war Prostituierte“), die das Opfer laut einer angeblichen Freundin gerüchteweise mal verbreitet haben soll.
  • berichtet über angebliche oder tatsächliche (es geht uns nichts an!) Suizidversuche.
  • lässt über persönliche Facebook-Inhalte (in Text und Bild), bis hin zu einem sog. Pornovideo, „das ÖSTERREICH vorliegt“ (und vermutlich in Kürze auf der Homepage zu sehen sein wird) kein Tat-irrelevantes, privates Detail aus, dessen die Redaktion habhaft werden konnte.
  • benutzt ein Verbrechen als Vorwand, um das gesamte Leben eines Menschen in den Dreck zu schreiben und darin endgültig auszulöschen.

Und das war jetzt nur, wie „Österreich“ über das Opfer(!) berichtet hat…

Update Nov. 2010: Auf unser Betreiben verurteilte der „Österreichische Medienrat“ am 11. Nov. per OTS-Aussendung diese Form der Berichterstattung.

Update Mai. 2011: „Österreich“ und andere Medien berichten nach wie vor ohne Rücksicht auf den Persönlichkeitsschutz über den Fall.

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7 Kommentar(e)

Sebastian - Am 08. July 2010 um 10:26

Das von Österreich ist das absolut Letzte – die schreiben wirklich alles Hauptsache es bringt irgendwie Leser…
Aber andere Medien die eigentlich seriöser sein sollten sind auch grad nicht zimperlich mit Persönlichkeitsrechten: Im Kurier vom Sonntag war das private Umfeld des Täters so genau beschrieben, dass sich der Redakteur die Abkürzung des Namens auch gleich sparen hätte können und die volle Adresse noch dazu angeben hätte können. (hab dies Ausgabe leider nicht mehr und im Internet finde ich den Artikel nicht) Im Kurier wurde nicht nur erwähnt das der Täter bei ÖH-Wahlen kandidiert hat sondern auch in welchen Jahr, im welcher Stadt und auf welcher Liste!

Jan - Am 08. July 2010 um 10:36

Ich frage mich ja ernsthaft, wie weit sowas noch gehen soll. Das hat für mich auch nichts mehr mit Pressefreiheit zu tun, das ist die „Ausschlachtung“ eines Opfers. Nur was stört mich mehr? Dass eine Zeitung nicht vor der Totenruhe zurückschreckt und vollkommen nutzlose Details aufzählt, nur weil sie eventuell „schockieren“ könnten? Oder dass es Menschen gibt, die sich diese Zeitung auch noch kaufen, den Artikel womöglich beim Morgenkaffee lesen und absolut nichts anstößiges daran finden. Ich glaube beides ist für mich gleichermaßen niveaulos.

Hans Kirchmeyr
Hans Kirch​meyr (Autor) - Am 08. July 2010 um 12:21

@Sebastian

Du hast leider Recht. NEWS zB (ebenfalls von Fellner gegründet) hat fleißig die Witwen geschüttelt Mütter besucht und bringt nun auf seiner Homepage eine Klickstrecke mit mehr als einem Dutzend Privatfotos aus dem Leben der jungen Frau, in unterschiedlichsten Situationen und Lebensphasen. Und weil man schon mal da war, fotografierte man auch gleich noch Küche (Bildtext: „Die Küche von Steffi.“), Bett und Garderobe des Opfers.

Und als „Highlight“: Ein privater, handgeschriebener Liebesbrief des mutmaßlichen Täters an die Getötete. Aufgrund der Größe wenigstens nicht lesbar — denkt man, bis man im Bildtext die Aufforderung „KLICKEN“ neben einem „Teaser“ sieht…

Eingeleitet wird dieser Teil der Galerie von NEWS zwei Fotos davor mit der zynischen Klickaufforderung: „WEITER: Liebesbriefe und eine trauernde Mutter!“

Marton - Am 08. July 2010 um 23:33

Sebastian, richtig schreibst du…
Das von Österreich ist das absolut Letzte – die schreiben wirklich alles Hauptsache es bringt irgendwie Leser…

Aber was für welche…. 🙂

nömix - Am 10. July 2010 um 09:58

@ Jan,
es gibt nur wenige Menschen, die sich diese Zeitung kaufen und beim Morgenkaffee lesen. Der überwiegende Teil der Tagesauflage liegt morgens an den Wiener U-Bahn-Stationen zur freien Entnahme aus und/oder wird von Kolporteuren gratis verteilt. Leserpublikum sind neben Erwerbstätigen auf dem Arbeitsweg in erster Linie schulpflichtige Minderjährige: leseinteressierte Heranwachsende auf dem Schulweg, die täglich mit diesem Dreck konfrontiert werden.

Wolfgang - Am 14. July 2010 um 14:25

Und dabei muss Österreich noch gegen Heute antreten, das liegt ja auch überall auf zur freien Entnahme. Vielleicht brauchts solche „Kracher“, um im beinharten Konkurrenzkampf zu bestehen? Es ist schon gruselig.

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