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„Heute“ und die „Krimi-Kinder“

Wie viele Fehler passen in eine Titelgeschichte von “Heute”? Die Frage ist auf Kobuk nicht neu, der Highscore dieser Story vielleicht schon:

Polizei fasst

Fast. „Heute“ vergisst, dass es sich bei Unter-Zehnjährigen um strafunmündige Kinder handelt. Die Polizei darf diese im Normalfall gar nicht „fassen“, sondern nur als tatverdächtig ermitteln und in der Statistik er-fassen.

jeden Tag

Fast. Im zugrundeliegenden Zeitraum von Jänner bis Ende September hatten wir 273 Tage, aber laut Bericht nur 231 Tatverdächtige im Volksschulalter. Knapp eineinhalb Monate lang bekam die Polizei also kein einziges Kind zu fassen. Da hätte man sich ja mal der notorisch kriminellen Rechenleistung von „Heute“ annehmen können.

ein Krimi-Kind

Kriminell auch das Sprachgefühl von „Heute“. Abgesehen davon halten Fachleute die Charakterisierung kleiner Kinder als kriminell für äußerst problematisch, da dieser sehr „erwachsene“ Begriff und die ihm innewohnende juristische Beurteilung dem kindlichen (Fehl-)Verhalten meist nicht gerecht wird. Daher hat sich in diesem Bereich die Bezeichnung Kinderdelinquenz statt -kriminalität durchgesetzt. Aber ich möchte „Heute“ nicht langweilen.

Noch keine 10 Jahre alt, aber gewalttätig

Bevor wir beim nächsten Volksschüler aus Angst die Straßenseite wechseln, empfehle ich diesen Humorklassiker über die Schule von damals und heute. Denn hätte man schon zu meiner Volksschulzeit all unsere Gewalttaten — vom Haarabschneiden (ja, auch eine Körperverletzung), über den täglichen Raufhandel, bis zum ausgeschlagenen Milchzahn — mit dem StGB verfolgt, hätten wir im Jahr auch locker 200 Anzeigen zusammenbekommen. An einer Schule. Ob es bei den „Heute“-Redakteuren wirklich so viel friedlicher zuging?

Die Zahl der Straftaten stieg

Das ist insofern spannend, als es dazu gar keine Statistik gibt. Daher können seriöse Experten auch nicht sagen, ob die Gewalt unter Kindern gerade steigt oder sinkt. Selbst zu langfristigen Tendenzen gibt es abseits der Stammtische, und allen Horrormeldungen zum Trotz, keine gesicherten Erkenntnisse.

Kein Hindernis für „Heute“. Das Blatt nimmt einfach die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Innenministeriums. Das ist aber ungefähr so, als würde man versuchen, aus dem Heizölverbrauch Rückschlüsse auf den Klimawandel zu ziehen. Denn bei der PKS handelt es sich um eine reine Anzeigenstatistik.

Das größte Problem: Sie deckt nur das sogenannte Hellfeld der Kriminalität ab. Taten, die nicht angezeigt werden, bleiben im Dunkeln. Und wird mehr angezeigt, ist nicht zwangsläufig die Kriminalität im selben Maße gestiegen, manchmal wird auch nur das kaum veränderte Dunkelfeld besser ausgeleuchtet.

Denn steigende Zahlen können z.B. ebenso gut einer höheren (oft medial befeuerten) Sensibilität und Anzeigebereitschaft geschuldet sein. Oder auch einer (oft medial befeuerten) neuen Schwerpunktsetzung der Polizei. So stieg in den 90er Jahren in Wien die Zahl der 10- bis 13-jährigen Tatverdächtigen um die Hälfte an, nachdem ein eigenes Referat zur Bekämpfung von Jugendkriminalität eingerichtet worden war.

um 50 Prozent

Da sich mit einem Vorjahresvergleich — da wäre der Anstieg nur ca. 0,7 (!) Prozent — keine Schlagzeile machen ließe, überspringt „Heute“ einfach ein paar Jahre und vergleicht die Zahl von 2010 mit jener von 2005. Ein alter Trick aus dem Hause Dichand.

Aber selbst da ist noch interessant, wie „Heute“ auf 50 Prozent kommt. Dazu steht im Artikel:

[…] Die Zahl gewalttätiger Kinder unter 10 (!) Jahren steigt in Österreich seit fünf Jahren rasant an. Wurde im gesamten Jahr 2005 gegen 217 Tatverdächtige im Volksschulalter ermittelt, waren es von Jänner bis September 2010 bereits 231. Rechnet man diese aktuelle Zahl hoch, könnte es bis Jahresende ein erschreckendes Plus von 49,3 % geben.

Der Autor hat hier die ersten drei Quartale aufs ganze Jahr hochgerechnet. Und ohne komplexe Prognoserechnung — ich denke, die können wir bei „Heute“ ausschließen — geht das eigentlich nur so:

231 / 3 x 4 = 308

Das wäre ein Anstieg von 217 auf ca. 308 Tatverdächtige, also um etwa 41,9 Prozent. Deutlich unter den von „Heute“ erfundenen errechneten 49,3 Prozent.

Im Vorjahr (PDF) waren’s übrigens 306. Sollten die 308 für heuer einigermaßen zutreffen, erwartet uns, wie schon erwähnt, ein rasanter Anstieg der Anzeigen von ca. 0,7 Prozent, wenn überhaupt. Wie soll man so vernünftige Schlagzeilen zum Thema Kindergewalt machen?

Außerdem hat „Heute“ es doch sogar amtlich — womit wir bei der letzten Zeile des Aufmachers wären:

Jugendrichterin warnt: „Die Hemmschwelle beim Zuschlagen sinkt“

So eine Autorität unterstreicht zweifellos die Dramatik und Glaubwürdigkeit der geschilderten Entwicklung. Da ist es auch nebensächlich, dass eine Richterin kaum fachliche Erfahrung mit strafunmündigen (!) Volksschülern haben dürfte…

Cui bono?

Basis der „Heute“-Schlagzeile von Dezember war die Beantwortung einer FPÖ-Anfrage durch Innenministerin Fekter im Parlament. Und Basis der FPÖ-Anfrage im Parlament war eine „Heute“-Schlagzeile von September (damals ging’s um die 10- bis 14-Jährigen):

Kinder: 56 Prozent mehr Gewalttaten
Vor allem Körperverletzung und Raub: Allein im Vorjahr begingen Sprösslinge zwischen 10 und 14 Jahren 1630 Gewalttaten …

„Vor allem“ … eine freie Erfindung der Redaktion. Denn „Heute“ zitierte aus der Statistik die Summe der „Handlungen gegen Leib und Leben“. Darin ist Raub gar nicht enthalten. Dieses Verbrechen fällt in der Kriminalstatistik (PDF) in einen völlig anderen Abschnitt, nämlich „Handlungen gegen fremdes Vermögen“, und nimmt dort mit 117 Verdächtigen auch keine führende Stellung ein (die haben dort gewöhnlicher Diebstahl und Sachbeschädigung).

… 56 % mehr als noch 2004

Und auch damals sprang das Gratisblatt ein halbes Jahrzehnt zurück in der Zeit. In diesem Fall besonders perfide, denn der Vorjahresvergleich mit 2008 (PDF) hätte diese erfreuliche Schlagzeile gebracht:

Kinder: 7,4 % weniger Gewalttaten

Aber dann hätte es vielleicht gar keine Anfrage im Parlament gegeben. Und ohne die keinen um Monate vorgezogenen (Zwischen-)Bericht aus dem BM:I. Und ohne den kein vierteljährliches „Heute“-Update mit den neuesten Gewalt-Daten unserer Jugend. Und ohne das weniger Leser. Weniger Anzeigen. Weniger „Heute“…

Weniger Kobuk.

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Schneller Roboter, langsam recherchiert?

12 Kommentar(e)

Sonja - Am 10. January 2011 um 08:30

Wie viele falsche Anführungszeichen passen in den Kobuk-Blog? Diese Frage musste ich mir gerade stellen.

Olja Alvir - Am 10. January 2011 um 09:35

Hahahaha Sonja 😀 Genial.

Abgesehen von den Anführungszeichen natürlich ein köstliches Stück Kobuk.

Hans Kirchmeyr - Am 10. January 2011 um 09:59

Glaubt mir, die 66/99 tun mir als notorischem Perfektionisten mehr weh als euch. Aber ich habe darauf technisch leider keinen Einfluss. (Okay, ich könnte die 99/66 auch jedesmal einzeln per HTML-Zeichencode erzwingen — aber so weit geht die Liebe zur korrekten Typografie denn doch nicht *g*)

Franz - Am 10. January 2011 um 11:14

Na geh, so kompliziert sind die typographischen Anführungszeichen auch wieder nicht, mit ein bisschen Übung schüttelt man die aus dem Gelenk: „ und “, also „ und “.

Bei mir (unter Linux) liegt das praktischerweise auf Alt Gr+V und Alt Gr+B (ohne dass ich es extra konfigurieren musste) 🙂

Franz - Am 10. January 2011 um 11:15

Also „ und “ für „ und “

Sonja - Am 10. January 2011 um 11:22

@hans: Das ist ja leider das Drama. Der Typografie wird nicht mehr die Liebe geschenkt, die sie eigentlich verdient hat und Grafiker und andere Perfektionisten müssen Höllenqualen durchleiden. In Summe sind alle traurig. Inklusive der kleinen ungeliebten Buchstaben und Satzzeichen.

Eminenz - Am 10. January 2011 um 14:46

Die Geschichte hat schon einen bissl einen Bart. Am selben Tag ist übrigens „Österreich“ mit der Schlagzeile erschienen: „Bei minus 17 Grad – Jetzt haben alle Sex! Kälte bringt Baby-Boom!“ 😉 https://bit.ly/f2rFUK

Bodenseepeter - Am 10. January 2011 um 16:24

Vielleicht ist es nur ein Tippfehler und sollte heißen: Polizei: fast jeden Tag ein Krimi-Kind 😉

Helge Fahrnberger - Am 10. January 2011 um 16:31

@Eminenz: Die Geschichte der Symbiose mit der FPÖ hat einen Bart? Wo war das zu lesen?

Hans Kirchmeyr
Hans Kirch​meyr (Autor) - Am 10. January 2011 um 16:38

@Bodenseepeter

Hehe, gefällt mir. Jetzt musst dir aber noch was für die Artikelüberschrift im Blattinneren einfallen lassen: „Täglich ein Krimi-Kind gefasst“ 😉

Julia - Am 11. January 2011 um 22:49

Auf die Gefahr hin, eure html-Diskussion zu unterbrechen: Super Post – Bravo!

VonFernSeher - Am 12. January 2011 um 20:53

Was ist eigentlich in der eigenen Erziehung vorgefallen, wenn man (grob zusammengefasst) „Eine Watschn zur Zeit hat noch keinem geschadet“ für einen „Humorklassiker“ hält?